Tapsi, die eisblaue Ente
Der eigene Name
An einem sonnigen Morgen in schon warmen, späten Apriltagen schlüpfte ein Entenküken aus seinem Ei. Es ist für alle schlüpfenden Küken nicht leicht. Auch für Tapsi war es anstrengend, aus dem Ei zu kommen. Sie wusste noch nicht, dass sie Tapsi heißen würde, denn Enten geben ihren Kindern erst nach dem Schlüpfen ihren Namen. Die Eier sahen fast gleich aus. Sie lagen da, in dem kleinen Nest, weich, auf wärmenden Federn gebettet. Mit dem Dorn auf ihrem Schnabel pickte Tapsi die harte Schale des Eies von innen an. Sie pickte und pickte an einer Stelle.
„Pick! Pick! Pick!“ Sie pickte so lange, bis die Schale ein kleines Loch hatte. Nun guckte schon die Spitze ihres Schnabels aus dem Loch. Ihre Nasenlöcher auf dem Schnabel waren groß. Tapsi holte tief Luft. Es roch alles so fremd. Tapsi konnte noch nicht sehen, was da draußen, in der großen Welt auf sie wartete. Sie pickte weiter und weiter. Das Loch wurde immer größer und das Ei bekam Risse in der Schale. Lange würde das Ei Tapsi nicht mehr daran hindern können, endlich nach draußen zu kommen. Tapsi pickte noch eine Weile unermüdlich an der Schale, streckte sich und stellte sich im Ei aufrecht hin. Als Erstes sah sie ihre Eltern und dann noch drei weitere Eier. Aus den Eiern kamen auch pickende Geräusche. Pick, Pick, Pick! Die Sonne schien in Tapsis Gesicht. Sie blinzelte ein paar Mal und zupfte sich dann die letzten Eischalen von ihrem kükengelben Gefieder.
Tapsi schaukelte in ihrer Eierschale nach vorne, kletterte aus ihr heraus, hüpfte auf den leicht erhöhten Rand ihres Nestes und rief ihren Eltern zu:
„Ich bin die Erste! Was ist mein Name?“
Die kleine Ente machte einen großen Schritt nach vorne und stürzte zwei Schnabellängen in die Tiefe ins weiche Gras. Sie stand sofort wieder auf, blickte sich um und schritt nochmal nach vorne. Jetzt hatte sich mit ihrem Fuß im Gras verfangen und fiel wieder um. Sie stand erneut auf und blickte mit halbgeöffnetem Schnabel freundlich zu ihren Eltern, um ihren Namen zu erfahren.
Die Eltern, Natascha und Fridolin, sahen sich kurz an und Natascha sagte: „Tapsi!“
Ihr Vater Fridolin sagte: „Willkommen in deiner Welt, kleine Tapsi. Du wirst noch viel Zeit haben, alles zu sehen. Aber jetzt gehe erstmal vorsichtig zurück ins Nest und warte, bis deine Geschwister auch geschlüpft sind.“ Natascha senkte den Kopf und ging mit dem Schnabel ganz dicht am Tapsis Gesicht heran. Tapsi nahm die Flügel nach oben und hielt sich am riesengroßen Schnabel ihrer Mutter fest, die sie zurück ins Nest hob. Tapsi strampelte dabei mit den Beinen, als wollte sie durch die Luft laufen.
Es dauerte nicht lange und ihre drei Geschwister waren auch aus ihren Eiern geschlüpft. Tapsi sah sich alles ganz genau an. Tapsi war jetzt draußen und konnte sehen, wie ihre Geschwister, die nur die schützende Eischale von innen kannten, auch herauskamen.
Ein Küken schlüpfte und rief, schon bevor es aus dem Ei heraus war, „Ich habe Hunger“ und schaukelte mit dem Ei hin und her, bis es zur Seite fiel und mit lautem Krachen kaputt war. Das ging leichter als das anstrengende Picken. Das Küken war größer und stärker als Tapsi. Aber das Ei war auch etwas größer.
Tapsis Eltern lachten und die Mutter Natascha sagte: „Willkommen in deiner Welt, kleiner Rolli. Du bist wie dein Vater.“
Fragend aber stolz blickte Fridolin, der Vater, zu seiner Frau Natascha. „Mir macht das Essen eben Spaß. Am liebsten mit Euch und unseren Freunden. Wir schwimmen über den See, sehen die Häuser und Bäume, die den Park umgeben, und schnattern über dieses und jenes, während wir zwischendurch den Kopf untertauchen, um etwas Essbares aufzuschnabeln.“
„Du meinst: aufzugabeln“, sagte Natascha.
„Wir haben weder Gabel noch Löffel, wie die Menschen. Wir haben unsere Schnäbel. Darum heißt es aufzuschnabeln“, sagte Fridolin.
Beide Eltern ließen das Nest auch nicht aus den Augen, als sie sich über die richtigen Worte für das unterhielten, was sie machten und was es um sie herum so alles gab. Eine Eischale zerbrach fast lautlos. Aus diesem, dem dritten Ei, schlüpfte eine ganz besondere Ente. Das kleine Küken war eigentlich normal. Man konnte sofort erkennen, dass es eine kleine Ente war. Die Füße mit den Schwimmhäuten zwischen den Zehen waren da, wo sie hingehörten. Der Schnabel war, wie bei allen kleinen Enten, noch etwas kurz. Das Federkleid war wie bei allen kleinen Enten ganz flauschig. Das Küken war aber etwas kleiner, zarter und dünner als die anderen. Mit nicht enden wollendem Fleiß hatte es sich durch andauerndes Picken an der Schale den Weg in die Freiheit verschafft.
Das Küken kletterte heraus, nickte seinen Eltern zu und sagte: „Das Wunder des Lebens. Möge ich stark und dienlich sein.“
Seine Mutter Natascha blickte stolz auf dieses kleine, dünne Küken. Mit aufgerissenen Augen starrte sein Vater Florian auf seinen frisch geschlüpften Sohn, der nicht kükengelbe Federn hatte, sondern ein braun-grau gepunktetes Federkleid.
Florian blickte zu seiner Frau Natascha und sagte: „Um den wirst du dich mehr kümmern müssen, ich besorge stattdessen viel Futter für unseren Rolli.“
Die Mutter Natascha lächelte das Küken an und sagte: „Willkommen in der Welt, kleiner Franzi. Du hast Recht. Es gibt viel zu tun, aber du bleibst noch eine Weile hier. Wir sprechen über alles und du wirst noch viel Zeit haben, gute Dinge zu tun.“
Die drei geschlüpften Küken hatten sich nicht viel zu erzählen. Sie wussten, dass sie alle gerade aus ihren Eiern geschlüpft waren, ihre Eltern waren bei ihnen, und etwas Besonderes erlebt hatten sie bisher noch nicht, über das sie hätten sprechen können. Und so warteten sie darauf, dass das letzte Küken aus dem Ei schlüpfte.
Es dauerte etwas länger, weil das Küken mit seinem Pickeschnabel nicht an einer Stelle geblieben war, wo es pickte, um die Eischale zu öffnen, sondern weil es überall pickte. Als das Küken dann fast überall schon kleine Löcher gepickt hatte, fiel das Ei komplett, in viele kleine Stücke, auseinander.
Das kleine hübsche Küken sprang auf und sagte: „Los gehts, da bin ich, Leute! Meine Güte, wie sehe ich denn aus? Die Federn sind ja alle durcheinander! So kann ich mich nicht sehen lassen. Was sollen denn die anderen denken? Ich bin ein Vorbild. Was haben wir hier? Eltern, Geschwister, zusammen fünf, die mir sagen, wie großartig ich bin. Für den Anfang reicht es. Andere werden folgen. Ich werde ein Star!“
„Willkommen in der Welt, kleine Influenzy“, sagte die Mutter. Der Vater lächelte, auch wenn er wusste, dass es jetzt mit dem ruhigen, beschaulichen Entendasein vorbei sein würde. Die kleine Influenzy würde schon sehr bald damit anfangen, sich der Welt zu zeigen. Sie würde Geschichten erzählen und fast nie müde werden. Alle werden mit ihr spielen und viel lachen.
Die vier Geschwister hatten sich auf den ersten Blick lieb. Sie stolperten aneinander, watschelten durch das Nest und blickten sich immer wieder um und sahen zu ihren Eltern.
„Sind sie nicht wunderschön!“, sagte Natascha, die Mutter zu Fridolin, ihrem Mann.
„Das sind sie“, antwortete Fridolin, der Vater. „Ich freue mich darauf, sie großzuziehen und für sie da zu sein.“
„Und was passiert jetzt?“, rief Tapsi mit weit aufgerissenen Augen.
„Jetzt bekommt ihr erst einmal etwas zu essen“, antwortete die Mutter. „Dann könnt noch im feuchten Gras der vorne spielen und ich zeige euch schon mal euer Zuhause. Da vorne ist eine Stelle, von da kann man ganz viel sehen. Dann trocknet ihr eure Federn und geht zurück ins Nest zum Schlafen.
„Schlafen?“, fragte Influenzy. „Es ist doch gar nicht dunkel und das Licht kennen wir noch gar nicht. Wir wollen doch alles sehen.“
„Ihr werdet alles sehen“, sagte die Mutter. „Aber noch nicht heute und alles werdet ihr auch in den nächsten Jahren noch nicht gesehen haben – aber es wird immer mehr werden, was ihr kennenlernt. Nach dem Spielen und dem Essen werdet ihr sowieso müde sein. Es war ein anstrengender Tag für euch. Es werden noch viele Tage kommen und ihr werdet noch viel erleben. Also kommt ihr kleinen Weltentdecker!“
Die kleinen Enten sprangen aus dem Nest und watschelten, als hätten sie es gelernt, hintereinander, hinter ihrer Mutter hinterher. Der erste war Rolli, weil er wusste, es geht zum Essen. Hinter ihm watschelte Influenzy, die sich nichts entgehen lassen wollte. Dann kam Tapsi, die ab und zu stolperte. Es war aber keine Gefahr, dass Franzi, der hinter ihr war, gegen sie liefe, weil Franzi der Langsamste war. Er konnte schnell watscheln, aber er blieb immer wieder stehen und blickte sich um und sah sich alles genau an. Am Ende ging der Vater Fridolin. Er passte auf, dass alle beisammen blieben. Sie kamen an eine kleine Stelle, die sehr feucht war und auf der viele Kräuter wuchsen. Die Kräuter waren frisch. Sie rochen und schmeckten herrlich. Nach dem Essen tobten die kleinen Enten noch ein wenig im Gras. Sie wurden sehr schnell müde. Das war dann doch etwas viel, was sie heute erlebt hatten.
Auf dem kurzen Rückweg zum Nest blieb die Mutter Natascha stehen und schob mit dem Flügel etwas Schilf, das fast wie ganz hohes, dickes Gras aussah, zur Seite, und die kleinen Entchen konnten ihr Zuhause und die Umgebung von ihrem Zuhause sehen. Vor ihnen war ganz viel Wasser. Das war ein großer See, um den herum viele Wiesen waren. Hohe Bäume standen dahinter. Noch weiter dahinter, ganz weit weg, standen viel, viel höhere, feste, eckige Dinge. Es waren ganz viele und sie standen eng beieinander und wild durcheinander. Hier lebten sie also. Tapsi wurde sofort müde. Nun war es wirklich etwas zu viel für den ersten Tag. So viel Neues hatte sie erlebt und gesehen. – Und es war ja auch gar nicht leicht, aus dem Ei zu kommen.
Die kleinen Entchen wurden immer langsamer und folgten ihrer Mutter zurück zum Nest, wo ihr Vater und ihre Mutter sie mit dem Schnabel hineinhoben. Nur Franzi kletterte über einen Seitenweg selbst ins Nest. Da lagen die vier, eng aneinander gekuschelt, noch gewärmt von der Sonne. Rolli schlief als Erster ein. Er schloss seine Augen und schob sein Köpfchen seitlich unter einen seinen kleinen Flügel. Influenzy hatte den Schnabel im Sitzen auf die Brust gelegt und schlief direkt ein. Franzi schlief auch, blieb aber aufrecht liegen und schloss nur die Augen. Auch Tapsi merkte, wie ihre Augen schwerer wurden und die Augenlider sich über ihre großen, hübschen Augen langsam senkten. Sie freute sich auf den nächsten Tag und wusste, dass sie viel erleben würde.
Tapsi begann zu träumen. von dem warmen Nest; von ihren Eltern; von ihren Geschwistern und von Spielen, die sie spielen würde, zusammen mit ihrer Familie und den anderen kleinen Enten in ihrem Zuhause.
Wie das Leben einer Ente in der Zeit, in der sie noch bei ihren Eltern ist, wird, hängt auch ein wenig davon ab, wo sie leben. Enten leben fast auf der ganzen Welt, aber Tapsi kam auf einer kleinen Grasinsel mit einer lachenden Trauerweide, umgeben von dichtem Schilf in einem großen Teich, mitten in einer der größten Städte der Welt zur Welt. Ihre Adresse ist: Central Park West, Ecke Neunundsiebzigste Straße, an der Transverse, New York, New York, Vereinigte Staaten von Amerika.
Wie Tapsi viel später zur eislblauen Ente wurde, ist eine ganz andere Geschichte.