Prolog

Dragomar
Probekapitel (voraussichtlich)

Schrifteinstellung

Es schneite Gift und die Luft roch nach Schwefel. Die Schneeflocken waren nicht weiß, sondern gelblich-grau, schmutzig von Schwefel und Rauch. Er hob seinen gewaltigen Kopf und starrte durch das Schneetreiben in die Richtung, in die er aufbrechen würde.

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Von Ehre verlassen
die Macht der Magie
wartend auf Einen
der stärker als sie.
Der Zauber ist stark
in dem, der ihn trägt
als Freund und Gefährten
der Gutes bewegt.
Den Zauber zu nutzen
als sein letztes Schwert
die Schwächsten zu schützen
der Magie eigner Wert.

PROLOG

ragomar war der uralte Name des Berges, der auch der Insel, aus der er sich erhob, ihren Namen gab. Der Berg war nicht der Höchste in der Antarktis. Er war nicht mit einer hohen Eisschicht bedeckt, wie die anderen Landmassen. Die schroff von Falten zerklüfteten, grauen Wände von Dragomar stiegen direkt aus dem Eismeer empor. Der Berg reckte sich wie eine breite, ausgestreckte Klaue aus dem Ozean nach dem Himmel, in dem Wissen, beispiellos zu sein. Jahrtausende war Dragomar Teil einer größeren Idee, die Festung und Schönheit für die Einwohner und die Region war. Eine vergessene Kultur, die durch Naturereignisse und Kriege unterging. Viele Legenden beschrieben die Insel und das Volk, das dort einst lebte. Es waren die Drachen des Eises, die einst eine Kultur aufbauten und schützten. 

Eine dieser Legenden, die Älteste von allen, war ›Dragomar Gnorth‹. Sie entsprang so frühzeitlicher Überlieferung, dass es keine einheitliche Fassung gab. Es waren Bruchstücke, die für sich betrachtet, keine Geschichte erzählten und, wahllos zusammengefügt, nur schwer einen Sinn ergaben. Es war eine Legende von Drachen und Ungeheuern, von Zauber und Zerstörung, von Ritualen und Macht. Allein das Drachenlied war ein kurzer, nahezu zusammenhängender Text. Auch Helden gab es in den Fragmenten der historischen Überlieferung. Es gab einen Ort: Dragomar, an dem alles geschah und an dem verschiedene Kulturen, viele Jahrtausende später, ihre Blütezeiten und ihren Untergang erfuhren. Die ganze Wahrheit über Dragomar kannten nur wenige aus den späteren Epochen. Ihr Wissen war mit ihnen untergegangen. Sie selbst lebten im Zeitalter der Meister, dem Goldenen Zeitalter, das fünftausend Jahre Bestand hatte und dessen Blütezeit erst einhundert Jahre zurücklag. Auf dem Höhepunkt seiner Schönheit wurde das Reich zerstört und die Überlebenden seien alle geflohen, so sagte man. Aus dieser Zeit gab es viele Geschichten und einige seltene Dokumente aus der zerstörten Bibliothek. Legenden und Mythen gab es ebenso aus dieser Zeit. Das Zeitalter der Meister war, trotz aller irdischen und erklärbaren Geschichten, ein Zeitalter der Zauberei. Die Magie wurde nutzbringend eingesetzt. Sie war Teil des Alltags und der nicht erklärbaren Dinge in den überlieferten Geschichten. Es waren Geschichten über Reichtum, Edelmut, Zauberei und es waren episch vorgetragene Schlachten. Nach dem Untergang des Reiches vermieden die Einwohner der Antarktis, die Insel zu betreten. Sie glaubten, ein Fluch läge auf der Insel und dass jeder, der dort hinginge, seinen eigenen Untergang heraufbeschwöre.

Seit einigen Jahrzehnten, sagte man, sei Dragomar wieder bewohnt. Es wurde von ›Verrückten‹ gesprochen, die kein vernünftiges Zuhause hätten, von todesmutigen ›Abenteuerern‹, von ›Verbrechern‹, die keiner wollte. Tatsächlich waren es nicht viele, die für die Hoffnung auf den Frieden und die Schönheit der vergangenen Tage – in neuen Zeiten – kämpften und arbeiteten. Wenige kannten Dragomar noch aus den goldenen Zeiten. Niemand wusste, wie alt sie wirklich waren. Keiner kannte ihre Geheimnisse. Sie waren Legenden, obwohl sie nicht erkannt wurden. Sie waren da, ihr Werk zu vollenden, um im Reinen zu gehen. Für den Fortbestand würden nachfolgende Generationen sich verantwortlich zeichnen.

Eremides und Galbohei standen zweitausend Meter über dem Abgrund auf einer Terrasse, auf dem von Höhlen durchzogenen Berg. Sie sahen in den Abendhimmel, dessen Licht sich in tausendfacher Form, auf den Wellenkämmen und dem karstigen Eis des Eismeeres spiegelte.

»Es ist jedes Mal wieder beeindruckend.«

»Wahrhaftig, in ständiger Veränderung. Wie das Leben, in einem beruhigenden Bild eingefangen, in dem das Licht sich wie Wind und Wellen bewegt, um sich der Gefangenschaft des Augenblicks in einem Hauch zu entziehen.«

»Sanft und kraftvoll. Genauso würde ich Hoffnung malen.« Galbohei schöpfte gedankenschwer Luft, den Moment festhaltend. Mit einem Seufzen atmete er aus, bevor Eremides ihm entgegnete:

»Hoffnung? Sie ist ein gefährlicher Begleiter, solange es gestaltbare Möglichkeiten gibt und diese ungenutzt bleiben. Verharren in Hoffnung – auf was oder wen auch immer.«

»Oder etwas, das uns selbst die Kraft gibt, weiterzumachen. Ein Lichtblick. Ein Trost.« Galbohei versuchte das Leuchten am Himmel als ein Zeichen zu werten. Das Licht, helfend in der eigenen Sache. Gebannt verfolgte er mit seinem Auge die Lichtschweife, die ständig neue Bilder erzeugten.

»Das ist nur das grüne Wetterleuchten am Nachthimmel«, polterte Eremides. »Es ist nicht von langer Dauer. Du kannst dich daran nicht festhalten. Kleine Teilchen haben keinen Nutzen für uns. Es hilft dir nicht, außer bei Dunkelheit.« Eremides hätte gern das Schauspiel am Himmel genossen, ohne dass die Gedanken an vergangene und zukünftige Schlachten die selbstlose Schönheit und Vergänglichkeit des Augenblicks zerstörten. 

»Hoffst du auf Frieden oder auf den Sieg?« Galbohei erinnerte sich an alle Auseinandersetzungen früherer Tage und die Härte ihrer Gegner. »Kann es Frieden geben, außer, dass wir gewinnen? Wahrscheinlich nicht.«

»Wir müssen uns damit abfinden, dass Hoffnung auf Frieden allein unser Untergang wäre«, knurrte Eremides.

»Warum?«

»Du hast es gesagt. Unsere Feinde wollen keinen Frieden. Nur wir sind in der Lage zu verhindern, dass ihre Gier und ihr Wahn uns nicht alle unterjochen. Sie kennen weder ein Nebeneinander, noch ein Füreinander. Tröste dich, Galbohei. Wir haben in längst vergangenen Tagen andere Probleme gelöst. In den Jahren, die uns beide verbinden, hatten wir Zeiten der Ruhe und des Sturms, der Freude und der Trauer.«

»Es ist ausweglos. Wir stehen mit dem Rücken an der Wand. Die Last der Vergangenheit scheint auf die Lasten der Gegenwart und Zukunft zu warten. Wir können nur hoffen − oder wir könnten fliehen; wir könnten alles, was wir geschaffen haben, selbst zerstören, um unsere Feinde nicht zusätzlich zu stärken. Wir könnten wieder im Untergrund, heimlich, einen späteren Aufstand vorbereiten − oder warten – versteckt und getarnt warten.«

»Warten? Worauf? Zerstören, obwohl wir aufbauen? Den Brunnen vergiften, der allen gehört? Fliehen? Wohin?« Eremides erwartete nicht, dass Galbohei eine einzige Frage zu beantworten in der Lage sei. Galbohei würde alles infrage stellen, wofür sie ihr bisheriges Leben lang einstanden, was sie ausmachte, egal, in welcher Gestalt, sie dennoch unverkennbar waren. Galbohei lebte den Krieger in sich, und nichts würde das ändern.

»Zumindest wären wir wie unsichtbar und könnten versuchen, Gleichgesinnte für unsere Sache zu gewinnen.« Die Kämpfe der Vergangenheit hatten jeden Knochen von Galboheis Körpers geschunden. Es sollte nicht erneut zu einem Sieg kommen, der keiner sein würde. Der Gedanke, sich zurückzuziehen und in Ruhe seinen Lebensabend zu verbringen, an einem Ort, den es nicht zu verteidigen gäbe, kam ihm vermehrt in den Sinn.

»Ausweglos ist ein endgültiges Wort für eine Lage, die wir gestalten können. Die Wand im Rücken, von der du sprichst, ist kein versperrter Fluchtweg. Sie ist die Wand, die uns stützt«, sagte Eremides. Er wischte streichelnd mit der Flosse über den rauen Fels des Berges, wie bei einem treuen Pferd, um es aufzumuntern, das nächste Etappenziel der Reise zu erreichen.

»Und dann sind da die Menschen, die sich unachtsam in der ganzen Welt verbreiten. Ich mag sie nicht − nicht mehr«, raunte Galbohei tiefgründig.

»Wie bitte?«

»Ist doch wahr! Es hat sich nichts geändert. Nicht einmal früher hatten wir vor ihnen Ruhe.«

Sie schauten sich an. Beide zogen fragend die Schultern in die Höhe, drehten ihre Schnäbel wieder nach vorn und lachten. Die Last der Probleme auf ihren Rücken war für einen Moment nicht gewichtig.

»Galbohei, erinnere dich bitte! Auch die Menschen sind Teil des Ganzen. Du weißt es besser, ebenso wie ich.«

»Hört, hört! Da spricht der weise und verehrte König vergangener Tage, der sich neuerdings Eremides nennen lässt«, sagte Galbohei mit breitem, allzu menschlichem Grinsen. »Wenn ich dich jetzt ›Fnordakyr, Gatt pertyrp! Akyr dzotb Akyr!‹, riefe, hättest du ziemlich Fracksausen unter deinem Pinguinkittel – dann käme alles wieder hoch«, flüsterte Galbohei herausfordernd. Eremides reagierte nicht. Die uralten Ehrenbezeugungen hatten keine Bedeutung für ihn. Noch nie. Er selbst hatte für die Abschaffung von Sonderrechten gekämpft, obwohl er den höchsten Stand hatte, der im goldenen Zeitalter zu erlangen war. Es hatte lediglich bewirkt, dass diejenigen, die sich aufwerten wollten, einen schleichenden Krieg entfachten, der schließlich im Untergang gipfelte. Er war nicht darauf aus, das Vergangene, mit allen Strukturen, wieder aufzubauen. Eremides tat das, was er immer tat. Er vertraute auf den verantwortungsvollen Umgang mit der Macht, ganz gleich, wer sie innehatte – in welchem Umfeld oder welchem Zufall sie entsprang.

Sie standen wieder schweigend nebeneinander auf der Terrasse, hoch oben am Berg und betrachteten das Farbenspiel am Nachthimmel. Sie hörten den Wind und vereinzelt das knackende Brechen von Eisschollen, die sich im Ozean vor ihnen übereinander türmten. Die Wellen, die wiederkehrend an den Felsen tosend brandeten, waren oben am Berg ein leises Rauschen, begleitetet von dem frischen Geruch des Meeres.

»Werden wir gewinnen?«, fragte Galbohei, ohne den Blick vom Himmelsleuchten abzuwenden.

»Wir sind im Vorteil«, antwortete Eremides. »Wir kennen den Wert der Freiheit und wollen sie nicht verlieren. Wir kennen Freundschaft und werden sie nicht aufgeben. Wir kennen die Liebe und wollen weiter lieben können.«

»Es sind viele. Sie sind besser bewaffnet, an Land sind sie uneinholbar im Vorteil und sie nutzen Zauberei.«

»Uneinholbar? Das Wort hättest du früher niemals in den Mund genommen. Du hättest dir eher die Zunge abgebissen. Wir bereiten uns vor und wir werden mehr.«
»Und wenn ihr Zauber größer wird? Unsere alte Kraft ist für immer erloschen. Von der Kraft blieb fast nichts übrig.«

»Möglich, aber ein kleiner Zauber, zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort, kann mehr bewirken, als rohe Gewalt. Was die Zauberei anbelangt, ist noch nichts entschieden. Wir wissen nicht, ob wir es aus eigener Kraft schaffen können, den Zauber zurückzuholen. Es könnte sogar ein Zeichen der Zukunft auch gleichsam ein Zeichen der Kraft und Schönheit aus fast vergessener Vergangenheit sein.«

»Du vertraust auf Eccintes?«, raunte Galbohei ungläubig. Er hoffte auch, dass eine neue Generation neuen Schwung bringen würde. Den Brückenschlag zur Vergangenheit hielt er aber für weit hergeholt.

»Eccintes ist der Name, den seine Mutter dem Ei gab, bevor sie starb.« Eremides räusperte sich, als wolle er etwas abschütteln, das ihm so nahe ging, dass er es loswerden müsse, um es zu schützen. »Er ist mein Fleisch und Blut. Mein Enkel. Der Sohn meiner Tochter, die ich geliebt habe; der Sohn meines Schwiegersohnes, dessen Anstand über allem erhaben war. Eccintes ist noch jung. Niemand kann vorhersagen, welchen Weg er einschlagen und welche Fähigkeiten er entwickeln wird. Er ist weit weg von hier. In Sicherheit – zumindest vorerst. Es wäre töricht, wenn wir all unsere Hoffnungen auf einen jungen Pinguin setzten. Nein, mein alter Weggefährte, das müssen wir, ein letztes Mal, in die eigenen Flossen und Flügel nehmen. Nenne es unser Vermächtnis an diejenigen, die uns nachfolgen werden, um alles zu erhalten oder zu erneuern.«

Eremides drehte den Kopf zur Seite. Er blickte den prächtigen Albatros, der von Narben gezeichnet war, und ein Auge in einer früheren Schlacht verloren hatte, direkt an. Die Augen von Eremides funkelten, wie das bewegte Glitzern der Abendsonne auf den Wellenbergen des Ozeans. Er hatte den Schnabel gesenkt und sah seinem Freund, über das Gestell seiner Brille hinweg, ins Gesicht und lächelte. Mit einer kurzen Bewegung aus der Flosse erschien eine zarte, weiße Flamme in Eremides´ Flosse. Er streckte die Flosse in dir Höhe, erhellte Galboheis Gesicht und löschte die Flamme wieder, wie er sie hatte erscheinen lassen. »Deine Augenhöhle ist gut verheilt.«

»Wurde auch Zeit. Nach siebzehn Jahren, trotz der blauen Schwämme. Früher hätte es ein paar Stunden gedauert. Wir sind in die Jahre gekommen«, bemerkte Galbohei. Sein Alter blieb sein bestes Argument, sich nicht mehr wehren wollen zu müssen, sondern sein Recht auf Ruhe einzufordern.

»Wie geht es deinem Sohn? Er müsste fast erwachsen sein. Er war eine Weile nicht auf der Insel«, fragte Eremides, obwohl er es besser wusste. 
Der Sohn Galboheis war bereits ein Vertreter der jungen Generation, die für die gemeinsame Sache arbeitete und kämpfte. Eremides log, um seinen Freund auf andere Gedanken zu bringen, die nichts mit Alter und Krieg, sondern mit einer noch nicht geschriebenen Zukunft zu tun hatten.

»Erwachsen? Groß gewachsen ist er«, sagte Galbohei. »Er ist größer als ich, aber leichter.« Lachend schlug er mit dem Flügel auf seinen rundlichen Bauch. »Er ist viel unterwegs. Ein richtiger Langstreckenflieger – wie ich früher, bis ich seine Mutter kennen lernte. Ich sehe ihn selten. Wenn er einmal hier ist, unternimmt er was mit seinen Freunden. Wenn ich ihn frage, was er den ganzen Tag über anstellt, erzählt er, dass er viel umherfliegt und wir nicht mit dem Essen auf ihn warten sollen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, dass er einer Arbeit mit Überstunden und Nachtschichten nachgeht. Er ist ein guter Junge und als Nesthäkchen der Liebling seiner Mutter. Dieses Jahr plant er, eine Familie zu gründen. Eine Freundin hat er noch nicht, soweit ich im Bild bin. Möglicherweise weiß seine Mutter mehr. Aber die beiden halten dicht.«

»Ja, ja. Es geht immer weiter und immer weiter. Was zerstört ist, wird wieder aufgebaut und selbst in den sorgenvollsten Zeiten gibt es zuweilen Momente des Glücks«, brummte Eremides.

»Der Verlust von Frau und Kindern ist ungerecht«, murmelte Galbohei und schloss kurz das wachsame Auge, das ihm geblieben war. »Ich habe meine Galboheia glücklicherweise erst viel später kennengelernt und mein Sohn hat noch gar keinen Krieg miterlebt. Ich hoffte, es würde so bleiben. Wenn wir beide – du und ich – unsere alte Zauberkraft hätten, würden wir alleine mit ihnen fertig werden.« Galbohei riss seinen Schnabel auf und hauchte einen weißen Nebel aus. Gleich danach einen druckvollen Strahl Wasser, der im Nebel sofort gefror, als hunderte kleine Eiszapfen aus dem Nebel herausgeschossen kamen, die an der Felswand zerschellten. »Das ist lächerlich!«, schimpfte er. »Da kann ich ja gleich eine Möwe aus der Krone zaubern. Es ist demütigend, was aus uns geworden ist.«

»Wenn wir unsere alten Kräfte wieder erhielten, wäre es bei unserem Feind ebenso. Wir müssen achtsam sein, nicht noch einmal alles zu zerstören«, sagte Eremides.

»Niederlage ist Niederlage. Ich würde das Risiko eingehen«, wetterte der alte Draufgänger Galbohei.

»Ich gehe wieder rein. Señor Machete wollte irgendetwas mit mir in der Bibliothek besprechen. Fliegst du noch deine Abendrunde?«

»Wie jeden Abend. Wenn es dunkel ist, kann ich Feuer und Blitze besser erkennen. Die letzten Wochen war es ruhig«, sagte Galbohei. »Vielleicht haben sie es sich anders überlegt und es gibt keinen Angriff.«

»Sie werden angreifen. Noch sind sie uns hier am Berg unterlegen. Das wissen sie. Gute Nacht, mein Freund.«

»Gute Nacht, Eremides«, sagte der Albatros. »Gib acht vor Machete, er ist scheußlich erkältet und schlecht gelaunt.«

»Wann ist er das nicht? Er hat sich in all den Jahren nicht an das Klima gewöhnt. Wie auch. Das drückt seine Stimmung. Er ist gern Bibliothekar. Es sind immer Personen um ihn herum, und dennoch ist er einsam. Hast du ihn schon beim Schlittschuhlaufen gesehen?«

»Das lass ich mir doch nicht entgehen. Er ist großartig. Jeden Freitag, bei der Orchesterprobe, sehe ich es mir an. Er tanzt auf dem Eis, als gäbe es nichts um ihn herum, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es gibt nur den Moment für ihn und für diejenigen, die ihn tanzen sehen. – Das hat aber nichts mit seinem Schnupfen zu tun. Eremides, ich habe dich gewarnt! Da ist eine Grippe im Anflug. Wenn sie da ist, bekommt Machete sie ganz sicher, auch weil er nie an die frische Luft geht. Na ja, es ist auch nicht sein Lieblingsklima hier. Apropos Anflug. Ich mach jetzt einen Abflug.« Galbohei ging nach vorne, in Richtung der steilen Felswand. Er stellte sich auf die flache Brüstung aus Fels und sprang mit einem Satz, bei angelegten Flügeln, von der Terrasse in die Tiefe. »Jippiiiiiiiiiieh!« Zweitausend Meter freier Fall. Kopfüber sauste er an der gerade abfallenden Bergwand entlang. Er war im Rausch der Geschwindigkeit. Der Ozean mit seinen Wellen und Eisschollen kam immer näher. Galbohei schloss das Auge und zählte von fünf rückwärts. »… drei, zwei, eins, los!« Im Sturzflug öffnete er, kurz bevor er auf dem Wasser aufschlagen würde, die Flügel. Er schlug mit ihnen kraftvoll auf und ab, bis er wieder an Höhe gewonnen hatte, und flog im Gleitflug über das Eismeer.

Eremides sah Galbohei im vom Polarlicht beleuchteten Nachthimmel weggleiten. Mühelos flog er da mit seinen riesigen Schwingen.

»Immer noch ein Kindskopf«, murmelte Eremides. Er schob sich das Notizbuch, das neben ihm auf einer Seemannskiste lag, unter die Flosse, ergriff die Schreibfeder und das Tintenfass und ging zurück in den Berg, in dem er geboren war. Er war ihm lange ferngeblieben und würde hier irgendwann seine letzte Ruhe finden, nachdem er Dragomar zu dem gemacht hätte, was es immer sein sollte: Ein Ort des gemeinsamen Vertrauens auf die Zukunft und ein Zufluchtsort für diejenigen, denen die Hoffnung auf Zukunft durch das Schicksal verwehrt war. 

Es war der Abend vor dem Tage, an dem sich das Schicksal wieder einmal in der Geschichte von Dragomar verirren sollte. Es kam, wie es immer kam. Ohne Anmeldung und ohne Warnung. Es war weder gut noch böse. Keine Prüfung, der man durch Verhandlung oder Krankheit entfliehen konnte. Es urteilte nicht und kannte weder Liebe noch Hass. Es gab auch keine Garantie, dass sich das Schicksal erfüllen würde. Das Schicksal war immer ein Gefährte von Dragomar. Ob es zu beeinflussen war, wusste auch Eremides nicht. Er vertrat die Auffassung, dass sich dem Schicksal zu ergeben, auch eine Beeinflussung durch Untätigkeit war. So würde es als Kraft immer unbewertbar bleiben. Auch wenn es weder gut, noch böse war, so half es immer bei Glück und Unglück, bei Sieg und Niederlage als Trost oder Feindbild. Etwas Unerklärliches erklärte das Unvorhergesehene, damit die Betroffenen lebten. Die Hoffnung auf ein gutes Ende, dass ein besserer Anfang sein sollte, begleitete die Gedanken der Bewohner von Dragomar. Es war nicht nur die Zukunft von Dragomar, es war die gefährdete Freiheit der Bewohner der Antarktis.

Das Schicksal betraf auch die Zukunft eines jungen Pinguins, der nicht wusste, welchen Platz im Leben der anderen er einnehmen würde. Das Schicksal hatte keinen Plan. Der junge Pinguin hatte ihn auch nicht – bis er am nächsten Tag eine Entscheidung träfe, die vielleicht alles verändern würde. Ob sich sein Schicksal damit erfüllen sollte oder sein aufrechtes Handeln dazu führen sollte, ihm zu entgehen, war ungewiss.

Prolog

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