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Strandstraße

Vorabveröffentlichung vor Korrektorat und vor Lektorat

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Schrifteinstellung

An einem sonnigen Morgen in schon warmen, späten Apriltagen schlüpfte ein Entenküken aus seinem Ei. Sie wusste noch nicht, dass sie Tapsi heißen würde, denn Enten geben ihren Kindern erst nach dem Schlüpfen ihren Namen.

Nach Hause kommen

Es geht aufwärts

Gerd fährt nach oben. Das ist nicht schwierig, denn jeder, der in dieser Ecke von Mecklenburg-Vorpommern sich von der See wegbegibt, fährt nach oben. Es ist nicht wirklich hoch, wenn man auf die Kühlung fährt, und er fährt noch nicht mal ganz hoch, sondern nur auf etwa vierundfünfzig Meter über dem Meeresspiegel, und eigentlich fällt es kaum auf, wenn er die Straße, die in sanften Schwüngen nach Süden führt, gummibereift entlang rollt, dass es aufwärtsgeht, solange er nicht in den Rückspiegel blickt, denn da sieht er zuweilen die Ostsee hinter den Wiesen und Feldern, zumindest dort, wo er noch nicht im Wald auf der insgesamt stark bewaldeten Kühlung angelangt ist. Die Kurven sind eher topographische Ausweichmanöver, als dass sie sich wirklich gleich Serpentinen den Berg hinaufschlängeln würden. Hier ist alles sanfter; es ist nicht der Kampf mit dem Berg, sondern es ist die Fahrt auf einen leichten Hügel. Gerd fährt hier fast täglich, und dennoch begeistert ihn die Fahrt zurück, wie der Blick zurück, wenn er über die Felder das Meer sieht, auch nach den vielen Jahren, dir hier lebt, immer noch. Nach Hause fahren ist genauso inspirierend, aber anders. Nach Hause fahren ist nicht so, als würde sich die Landschaft öffnen und das Herz willkommen heißen; nach Hause fahren heißt hier und für ihn, selbst seinem Herz zu begegnen. Gerd bildet sich ein, es sogar riechen zu können. Nicht sein Herz, sondern sein Zuhause. Er bildet sich ein, sogar den Takt seines Zuhauses zu spüren. Es ist mehr als die pure Sinneswahrnehmung, oder es ist eben genau das, die puristische Art der Sinneswahrnehmung in einem Konglomerat von Gefühlen. Schon von weitem, ehe er von der kleinen Straße abbog, die sich Hauptstraße schimpfte und hier außerhalb jeder noch so kleinen Ortschaft auch nicht mehr Dorfstraße heißen konnte, spürte er die Heimat am stärksten, noch bevor ihn der geliebte heimische Alltag, der durch die vielen Teilnehmer zuhause bei Langeweile als Luxus erlebbar ist, erfassen sollte. Er bog ein in den Mühlenweg, die öffentliche Straße, die nur drei Anlieger hat, aber keine Mühle mehr. Er fährt vorbei an der kleinen Kate von Karl und Vera Heinenbüttel. Beide sind schon sehr alt und wenn die Geschichten aus dem Dorf stimmen, leben sie schon länger hier, als es ihr Alter zulassen würde. 

Lokalkolorit

Im Dorf wird gerne etwas übertrieben. Das ist genauso, wie man hier nicht über schlechtes Wetter redet. Das Wetter ist da, das kann jeder sehen. Da muss man nichts hinzuerfinden, aber man muss es auch nicht erklären oder mit einem sinnfernen Spruch über die fehlende passende Bekleidung humoristisch versuchen zu verkaufen. Wenn aber das Dorf davon spricht, dass Karl und Vera unvorstellbar alt sind und schon unvorstellbar lange hier wohnen, dann sagt das was über die beiden aus und ihre Standorttreue, aber auch über dieselben Attribute derjenigen, die sie beurteilen und beschreiben. Alles legitim, genauso wie die Übertreibungen zur regionalen Infrastruktur. Auch das ist verständlich, wenn die kleine Bäderbahn, die Molli dampfbetrieben, mehr Fahrgäste hat als der internationale Flughafen Rostock Fluggäste. Eine andere Maxime der Region: Es ist doch da, also gehört es zu uns. Wir denken keine Sekunde darüber nach, Realitäten in Frage zu stellen. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum die Zufriedenheit in Norddeutschland allgemein höher ist als in Süddeutschland oder in Mitteldeutschland. Die Sicht der Dinge. 

 

Zeitgeist

Gerd fährt an dem zweiten Haus in seiner Straße vorbei; auch ein sehr großes Grundstück. Hier wohnt Familie Melching. Er, Sören, hat zwei Fahrradläden. Einen in Rostock und einen in Bad Doberan. In Kühlungsborn betreibt er zusätzlich einen Fahrradverleih. Seine Frau Steffi, eine ehemalige Radrennfahrerin, ist momentan wegen der drei Kinder relativ häufig zu Hause, aber freut sich schon darauf, bald wieder mehr unterwegs zu sein. Dann arbeitet sie auch in den Geschäften, aber sie organisiert auch Radtouren, bei denen die Teilnehmer nach Leistungsklassen zusammengestellt werden, weil Dörte sie bis an die Grenzen ihrer Fähigkeiten bringt. Sie hat vor, später wieder an Downhill-Mountainbiking in den Alpen teilzunehmen. Sie ist fahrradverrückt wie ihr Mann. Die gesamte Familie Baller versteht sich hervorragend mit der Familie Melching. Die Melchings sind für örtliche Durchschnittsverhältnisse ein bisschen sehr demonstrativ vegan und sehr zelebriert naturverbunden unterwegs. Nicht dass es jemanden stören würde, aber eigentlich ist man hier etwas entspannter in Lebensfragen und sieht nicht aus wie ein alles inhalierender Überzeugungstäter. Dennoch kommen sie nachbarschaftlich gut miteinander zurecht; man muss sich ja nicht jeden Vortrag bis zum bitterlichen Ende anhören oder aus einer persönlichen Meinung glauben, ein Fachgespräch zaubern zu können. Außerdem ist die Landschaft hier so ergiebig, sodass man immer Gelegenheit und Legitimation hat, den Kopf etwas schweifen zu lassen, selbst aus dem Fenster, wenn es wieder Schietwetter ist. 

Haus und Hof

Da ist auch schon die Zufahrt zu Gerds Grundstück, das nicht einfach ein Grundstück mit einem Haus drauf ist. Verschiedene Bereiche gliedern es, um den Anforderungen an Haus, Hof und auch Gästehaus gerecht zu werden. Man könnte es ein Landgut nennen, aber faktisch, baulich, funktional und historisch stimmt es nicht. Es ist ein zusammengeschusterter Haufen von Funktionseinheiten, die sich über die Jahre ergeben haben. Doch gerade das macht diesen Charme aus. Der Hof zeigt unverhohlen seine Entstehungsgeschichte. Das Haupthaus ist kein Herrenhaus. Dem Gebäude mit den Fremdenzimmern hingegen kann man sehr gut ansehen, dass es der ehemalige Stall ist. Schön und praktisch im Außenbereich ist, dass sich über die Jahrhunderte und auch im vergangenen Jahrhundert der Umbrüche tatsächlich niemand darum gekümmert hatte, was hier entstand und inwieweit das genehmigungsbedürftig war. Irgendwann wurde das Entstandene in die Bestandspläne einfach eingetragen. Neuerdings ist es schon schwieriger, etwas zu bauen, aber hier auf dem Land sind die baulichen Abstände zum Nachbarn doch anders als in Bad Doberan oder Kühlungsborn, wo gnadenlos auf Grundstücksgrenzen gebaut wurde, was tatsächlich die Nutzbarkeit der Grundstücke allenthalben einzuschränken vermag.

Die Ruhe hier oben ist kein wirklicher Vorteil. Selbst an den vollsten Sommertagen im unteren Abschnitt der Strandstraße mit den hohen Hausnummern und am Hafen kann man in wenigen Gehminuten in die Natur fliehen, wenn man will. Das Grundstück der Familie Baller ist nicht umzäunt. Eine unbeschnittene Hecke von Bäumen und Sträuchern in heimischen Arten umgibt es vollständig. Glatt rasierte Koniferen wird man hier nicht finden. Das folgte keinem Trend zur Natur, das sieht schon lange so aus. Da musste nicht die regionale Abfallentsorgung darauf hinweisen, dass einer natürlichen Fauna und ihrem Artenreichtum eine natürliche, artenreiche Flora zweckdienlich wäre. Auch die generelle regionale Naturverbundenheit war nicht ursächlich für die Hecke. Sie schützte vor Wind und hielt das eigene Viehzeug, ausnahmslos Nutzvieh, auf dem eigenen Grund, und hielt das Wild ab und damit vom Gemüsegarten fern. Das mit dem Fernhalten hat sich nicht als besonders sicher herausgestellt, wenn die Verlockungen größer waren als die Contenance, sich nicht auf fremde Grundstücke zu begeben. Dachs, Marder, Fuchs sind Hühnerfreunde und Rehe verlieren auch die Scheu. Dennoch, zumindest symbolträchtig wurde hier eine Grenze gezogen. Diese auch noch auf neunhundertfünfzig Metern mit der Heckenschere regelmäßig zu frisieren, hatte keiner der Familie Lust. Straßenseitig hat das Grundstück kein Tor und keine Klingel. Gerade zur Erntezeit war hier ständig Verkehr, weil sich auf dem Grundstück auch die Produktion, die Weiterverarbeitung von Sanddorn befindet. Die Sanddornbeeren, zusammen mit den Zweigen und den Ästen auf einem Anhänger hinter dem Traktor, stellen ein gewisses, luftiges Volumen dar. Es wäre Blödsinn, die Trecker durch irgendetwas zu behindern. Hinzu kommt, dass genau zur Erntezeit auch noch die Feriengäste auf dem Grundstück sind. Gerd fährt also schnurstracks auf das Grundstück. Die asphaltierte Straße endet an der Grundstücksgrenze und führt etwas ausgefranst, geschwungen als Kiesweg mit einem hohen Sandanteil weiter.

Die Gebäude sind nicht aufgereiht wie auf einer Perlenkette, aber bilden auch keine richtige Hoflösung. Zuerst kommt der ehemalige Stahl. Heute sind hier zwölf Gästezimmer untergebracht, alle mit kleiner Küche und einem Wohnraum. Vielleicht nennt man es heute Maisonnette, zumindest ist der Schlafbereich die Treppe hoch unter dem Dachstuhl des eingeschossigen Gebäudes. Insgesamt ist es schwer, hier in der Region mit Trendideen zu glänzen. Auch wenn Maisonette technisch und sprachlich eine richtige Beschreibung ist, so wäre die Vermarktung als solche zumindest ungewöhnlich. Wer weiß, vielleicht bietet ein Bauträger hier bald Townhouses – zweihundert Meter von einer Kuhweide an. Jede Einheit der Ferienwohnungen hat einen eigenen Zugang von draußen mit einer hübschen, grüngestrichenen Holztür und jeweils daneben ein Spalier mit einem Rosenstock. Auf der Rückseite sind Terrassen, doch die Gäste sitzen zumeist vor dem Haus, weil sie von dort aus den Blick in die Landschaft haben.

Das nächste Gebäude, etwas schräg versetzt weiter hinten, ist das Wohnhaus der Familie. Es besteht aus einem Haupthaus, an das relativ viel, relativ wild in den Jahren angebaut worden ist. Von vorne erkennt man in etwa der Mitte die Struktur des Hauses noch gut, aber zu den Seiten hin erweitert es sich eigentümlich wie ein Krake auf eine sonderbare Art, die durchaus ihren Charme hat, wenn man Vexierbilder liebt. Es wäre ein Sehtest, wenn die Natur nicht wäre. Hätte einer von Gerds Schwiegervorfahren eine Leidenschaft fürs Kegeln entwickelt, hätte dieser mit dem, was er vorgefunden hätte, auch noch eine Kegelbahn rangebastelt. Nicht nur der Trost des Architekten, sondern die vegetationsreiche Verbindung unterschiedlicher Baukörper und Baumaterialien macht das Haus zu einem Organismus. Rosen, Efeu, wilder Wein, aber auch Klematis und allerlei Spalierpflanzen haben über die Jahre fließende Übergänge der einzelnen Bauteile geschaffen. So steht es da das verwunschene Hexenhäuschen, bei dem die Verniedlichung nur zutrifft, wenn man sich nur auf einzelne Details des Objektes konzentriert: Rechts neben dem Gebäude, leicht nach vorne versetzt, steht eine aus rotem Ziegel gebaute Halle, die so groß ist, dass sie von der gesamten Familie als Abstellraum und Garage genutzt wird. Hier passen problemlos vier Fahrzeuge nebeneinander hinein und noch mehr hintereinander.

Die Halle wurde neunzehnhundertsechs gebaut. Genau zu der Blütezeit der vom Jugendstil und Klassizismus geprägten Bäderarchitektur in Kühlungsborn. Allein dem Bauwerk hier ist diese Pracht nicht anzusehen; weder zu seiner Entstehungszeit noch heute. Ein Funktionsbau, der nicht versucht, aufzufallen oder den damals hier an diesem Ort nicht vorhandenen Badegästen zu gefallen. Ornamente wie Muscheln und Seemonster sucht man hier genauso vergeblich wie Säulen oder eine ausgewogene Fassadengliederung.